Die Bergjägerin

Die Füssener Alpinisten Inge Jäger im Porträt

Kaiserwetter für eine Bergsteigerin. Inge Jäger geht am liebsten der Sonne entgegen. Die 83-Jährige wohnt in Füssen oberhalb des grünen Lechs in einem malerischen Altstadthaus, nur wenige Minuten vom Lechfall entfernt. „Von hier kann ich auf dem Alpenrosenweg zum Alpsee laufen, ins Faulenbacher Tal zum Alatsee oder nach Pinswang ins benachbarte Tirol. Das ist toll, wenn ich von der Haustür weg in alle Richtungen gehen kann." Heute hat sie sich den Kalvarienberg über die Südflanke vorgenommen, „weil es dort im Herbst und Winter mehr Sonne hat", meint die Wahl-Füssenerin. 

„Da oben am Schwarzenberg müssen Sie mal entlang, das ist eine herrliche Tour ... und hier drüben das Dreiländereck, das ist im Winter so schön." Inge Jäger zeigt beim Gehen immer wieder auf einen der Berge. Wer sich mit ihr unterhält, sollte einen Notizblock zur Hand haben oder sofort eine Handyaufnahme starten, denn im Allgäu und im Lechtal gibt es fast keinen Gipfel, den sie ausgelassen hat. 

Doch auch außerhalb der deutsch-österreichischen Grenzen hat sie schon so manchen steilen Felsriesen unsicher gemacht: den 3.905 Meter hohen Ortler in Italien zum Beispiel, den Jbel Toubkal in Marokko mit 4.167 Metern oder - nach dem berühmten Matterhorn (4.478 m) der höchste in ihrer Liste - den 4.545 Meter hohen Dom. „Es werden wohl mehrere hundert Bergspitzen sein, auf denen ich schon war, ich habe sie nicht gezählt", erzählt sie und lacht amüsiert. Inge Jäger ist ein wandelndes Berglexikon und schüttelt so viel spannende Erlebnisse aus dem Ärmel, dass einem im Verlauf des Gesprächs die Kinnlade immer weiter nach unten klappt. 

In Kempten im Allgäu geboren und aufgewachsen, haben Jägers Eltern ihr die Bergleidenschaft in die Wiege gelegt. Schon früh war sie mit dabei, wenn der Rucksack für den Wochenendausflug gepackt wurde und murrte nie, wenn sie bekleidet mit einem Strickkleid und ledernen Skistiefeln Richtung Himmel stieg. „Richtige Bergstiefel habe ich erst mit 13 oder 14 Jahren bekommen, denn es war für meine Eltern einfach zu kostspielig, Berg- und zusätzlich für den Winter noch Skistiefel zu kaufen", erzählt sie. Ganz ohne Auto, nur mit dem Fahrrad, Zug oder Bus fuhr die Familie samstags zum Ausgangspunkt der nächsten Tour. Allein für die Anreise brauchte sie viele Stunden, nicht selten auch einen ganzen Tag. Abenteuerlich sei das gewesen, erinnert sich Inge Jäger. Auch die Familienferien seien für die Berge reserviert gewesen: „Das Lechtal war damals das weiteste Ziel für unseren Urlaub." 

Seit dieser Zeit hat sie mit dem Bergsteigen nicht mehr aufgehört, auch wenn es jetzt im Alter "nur" noch Touren von drei bis vier Stunden sind. „Ich kann nicht mehr so hoch und weit, aber es geht noch. Ich plane eben anders, damit ich nicht auf den Knien daher komme. Ich muss mir ja nichts mehr beweisen." 

Sie ist eine "Bergjägerin" geworden, aber nicht um Höhenmeter zu zählen, sondern wegen des Bergerlebnisses an sich. „Schnell hinauf und auf die Uhr schauen, wie lange man gebraucht hat, das war noch nie mein Ding. Ich freue mich, wenn ich den Gipfel geschafft habe, dann wird erst mal hingesessen, Brotzeit gemacht und geschaut, wie die Berge ringsherum alle heißen." Die Bergsteigerin freut sich vor allem über die Ausblicke zu den vielen Gipfeln, auf denen sie schon gewesen ist, und zählte früher diejenigen, die noch in ihrem Repertoire fehlten. „Berge sind einfach etwas Imposantes, die bleiben für immer."

Bergsteigen war auch noch zu ihrer Jugendzeit fast ausschließlich eine Männerdomäne – trotz bekannter Pionierinnen wie Königin Marie, die Mutter des bayerischen „Märchenkönigs“ Ludwig II., die Konventionen über Bord warf und in einem Lodenhosenrock und mit Bergführer und Gefolge zahlreiche Alpengipfel erklomm. 

Dass Bergsteigen nur etwas für Männer sein könnte, kam auch Inge Jäger nie in den Sinn. Das Erlebnis am Berg war und ist noch heute ein zentraler Teil ihres Lebens. Weibliche Vorbilder im Alpinismus hatte sie nicht, auch keine männlichen, denn die Naturliebhaberin kümmern alpinistische „Erfolge“ nicht. Wenn sie mit Arbeitskollegen zu Bergabenteuern aufbrach, war sie dabei meist die einzige Frau, und sie erzählt von ihnen, also ob sie erst gestern passiert wären. „So mit 17 Jahren war ich mit meiner Seilschaft am Ochsentalgletscher in Vorarlberg. in die Gletscherspalte zu schauen, hat mich ziemlich beeindruckt und es macht mich traurig, wenn ich heute im Fernsehen sehe, wie das Eis immer weiter zurück geht."

Berg und Frau - für viele Männer ging das aber trotzdem nicht zusammen. Als es bei der Überschreitung des Ortlers in Italien zu einem kleinen (Menschen-)Stau kam und die junge Frau etwas unwirsch fragte, was denn da unten los sei, rief ihr ein Bergsteiger entgegen, sie solle den Mund halten und zuhause am Kochtopf bleiben. 

Was sie natürlich nicht tat. Ganz im Gegenteil. Ohne jeglichen Luxus biwakierte sie mit ihren Begleitern tage- oder manchmal auch wochenlang in den Alpen - mit einem 12 Kilo schweren Rucksack auf dem Rücken, in Knickerbockerhosen und Wadenstrümpfen oder in Walliser Lodenhosen, die auch in 4000 Metern Höhe noch wasserdicht gewesen seien, meint die Alpinistin. „Wir waren da ganz einfach unterwegs, mit oder ohne Zelt nur mit Isomatte und Schlafsack und haben so unter anderem den vergletscherten Bernina in Graubünden und das Monte-Rosa-Gebirgsmassiv im Wallis umrundet, wo wir einige 4000er-Gipfel geschafft haben."

Als sie ihren früheren Mann, einen Hochtourenführer, kennenlernte, beflügelten sie sich gegenseitig mit ihrer Liebe zu den Bergen, stiegen europaweit immer wieder auf über 4000 Meter hinauf und Inge Jäger kletterte auch Routen bis zu Schwierigkeitsgrad 5. Noch mit 76 Jahren war sie mit einem Füssener Vereinsmitglied des Deutschen Alpenvereins an der Gelben Wand am Tegelberg am Seil unterwegs, in jüngeren Jahren hat sie auch die 12 Apostel am Pilgerschrofen leicht geschafft. 

Besonders stolz ist sie auf die Überschreitung des berühmten Matterhorns im Jahr 1988. „Da war ich mit meinem damaligen Mann und einem weiteren Begleiter unterwegs. Wir haben uns verschätzt, es war schon Mitte September und der italienische Grat war ziemlich vereist. Da wir es nicht mehr bei Tag zur Hütte geschafft hätten, haben wir uns einen schönen Platz gesucht und sind dort gesessen, bis es hell wurde. Die Männer haben in der Nacht gefroren, bei mir ging's. Das war ein Abenteuer, außer uns war niemand dort unterwegs!", erzählt Inge Jäger und strahlt über das ganze Gesicht. 

Begeistert erzählt sie auch von ihrer Zeit mit der Jugendgruppe der Alpenvereinssektion Füssen, die sie mit ihrem Mann zwölf Jahre lang leitete. Wenn sie heute in Füssen "Ehemalige" aus dieser Gruppe trifft, schwelgt sie gerne gemeinsam mit ihnen in Erinnerungen. „Das war herrlich mit den jungen Buben und Mädchen! Wir haben zum Beispiel zweiwöchige Zeltlager und Skitouren in Slowenien, in Italien und Griechenland und am Kofel Skirennen mit Riesenslalom gemacht. Mehrmals sind wir den Säuling-Ostgrat am Hochseil gegangen – da haben die Eltern später geschluckt, als sie davon erfahren haben. Aber wenn die Jungen gut zuhören, kann man so was machen, da ist nie etwas passiert." 

Auch sie selbst ist bisher zum Glück vor schweren Verletzungen verschont geblieben, außer einer ausgekugelten Schulter, die sie sich bei einem Sturz während einer Skitour zugezogen hat. Bei ihrer Runde zum Kalvarienberg hält sie heute noch gerne an der Roten Wand an, zwei Felsen, die Kletterer zum Üben nutzen und an denen sie früher die Jugendlichen auf die Klettertouren im Hochgebirge vorbereitet hat. 

Inge Jäger mag Begegnungen mit anderen Bergsteigenden. Gerne hält sie für einen kleinen Plausch an. „Ich finde, es gehört in den Bergen einfach dazu, mal zu fragen, woher man kommt und wo es hingeht. Da bekommt man auch immer schöne Tipps. Außerdem haben sich so über die Jahre viele Freundschaften zu anderen Alpinisten entwickelt, mit denen ich dann später gemeinsam unterwegs war."

Bei ihren Touren hat sie sich immer in die Gipfelbücher eingetragen und es ist für sie heute noch spannend, die vorangegangenen Einträge zu lesen – vor allem bei Bergen, die selten begangen werden. „An der Elmer Rotwand oder am Pilgerschrofen liegen die Bücher schon mal 30 oder mehr Jahre und da "treffe" ich in den Zeilen viele Bekannte wieder, das ist schön. Auch meine eigenen Einträge kann ich nochmal lesen." Ein kleiner Wetterbericht, Spannendes, was auf der Tour passiert ist, ein paar flotte Zeilen - so sieht für sie ein Eintrag aus. 

„Mich interessiert alles, was am Weg blüht und die gesamte Tierwelt. In der Bleckenau gab es früher unglaublich viele Gämsen und am Gran Paradiso in der Schweiz haben Steinböcke wie Kühe gegrast. Da sind wir stehen geblieben und haben kaum mehr geschnauft. Toll, wie die Jungtiere da im Frühjahr auf den Schneefeldern immer wieder runtergerutscht und hochgelaufen sind und ihren Spaß dabei hatten. Auch Murmeltiere sind so drollige Wesen." 

Die Bergsteigerin freut sich schon beim Rucksackpacken darauf, was ihr der Tourentag alles bringen wird. Berge sind für sie Seelenbalsam. „Ich werde dort ruhiger. Daheim denke ich mehr über Dinge nach, draußen ist mir viel wohler." Mit ihrer Kamera oder dem Handy hält sie gerne die schönsten Momente fest und schickt sie ihrer Enkelin. Auch Schnee und Eis halten die 83-Jährige nicht vom Draußensein ab, da läuft sie mit Schneeschuhen zum Dreiländereck mit seiner tollen Aussicht über das Füssener Land hinauf oder fährt ins Tannheimer Tal oder ins Lechtal hinüber. „Aber wegen der Umwelt habe ich ein schlechtes Gewissen, mit dem Auto unterwegs zu sein. Da schaue ich lieber, dass ich von daheim aus zu Fuß oder mit dem Rad zu meinem Ausgangspunkt gelange." 

Und hat die erfahrene Bergsteigerin noch einen Tipp für Wanderneulinge? „Unbedingt Wechselkleidung mitnehmen, falls das Wetter umschlägt, das kann in den Bergen ganz schnell passieren, dazu eine Stirnlampe, eine Sitzunterlage, etwas zu trinken und einen Energieriegel, damit kann man schon viel überstehen." Sag es und schnürt sich schon die Wanderstiefel für die nächste Runde - keine Skistiefel mehr wie früher, sondern ein leichtes, richtig bequemes Paar mit ordentlicher Profilsohle, falls sie im Gelände ins Rutschen kommen sollte. 

Mittlerweile ist es Winter in Füssen: Inge Jäger füttert ihre Vögel im Garten und wünscht sich, noch viel in den Bergen unterwegs sein zu können. Ihre Eltern blieben dem Bergsteigen bis in hohe Alter treu - immer begleitet von ihren Dackeln. Die wurden notfalls auch im Rucksack weitergetragen, wenn der Weg zu steil oder unwegsam war. 

Zurück zur Übersicht

Infomaterial

Prospekte, Ortspläne, Karten und Broschüren online anschauen, downloaden oder bestellen – kostenfrei.

Ein kleiner Prospektstapel