Gedächtnis der Berge

Was Gipfelbücher alles erzählen

Gehen Schmidt und Schuster

den Berg hinauf,

machen sie hechel und schnauf, schnauf.

Gehen Sie runter,

sind sie wieder froh und munter.

                                                                                   Gipfelbuch Große Ahornspitze, 25.10.1987

 

 

Gipfelstürmer kennen dieses Gefühl: Der kühle Wind weht über die sonnengewärmte Haut, das T-Shirt klebt am Körper, das Herz pocht schneller in der Brust. Noch ein paar Meter, dann liegt einem auf dem Gipfel sprichwörtlich die Welt zu Füßen. Erhaben. Frei. Lautlos. Ein heiliger Moment. Berge, soweit das Auge reicht. Sie sind stille Meister des Glücks. Sie fordern, zeigen Grenzen auf und belohnen einen gleichzeitig.

 

 

Viele Wanderer haben ein eigenes Ritual, wenn sie den Gipfel erklommen haben:  Die einen berühren als erstes das Gipfelkreuz, andere den Felsen unter ihren Füßen. Freunde gratulieren sich zum geschafften Aufstieg, Paare umarmen sich und selbst Unbekannte reichen sich hier oben gerne die Hand. Umgeben von einem weiten Gipfelmeer sind alle für eine kurze Zeit Vertraute. Die Spitze des Berges ist eine Insel der Glückseligen.

 

 

Kein Wunder, dass viele diesen Moment festhalten wollen. Mit einem Foto und auch gerne mit einem Eintrag ins Gipfelbuch. „Das macht schon emotional, wenn man nach vielen Stunden Aufstieg endlich oben steht. Für viele Menschen ist es eine Art Meditation, auf den Berg zu gehen und sie tragen später gerne ihre Erkenntnisse und Gedanken in ein Gipfelbuch ein“, meint Peter Ziegler. Als Wegewart der Sektion Füssen des Deutschen Alpenvereins (DAV) pflegt er zusammen mit anderen Mitgliedern nicht nur 40 Kilometer Wanderwege bis auf 2000 Meter Höhe hinauf, sondern hat sich auch der Gipfelbücher des Füssener DAV-Gebiets angenommen. Das umfasst 17 Gipfel wie den Hausberg von Füssen, den Säuling, oder den Hohen Straußberg. Ohne Gipfelkreuz gibt es allerdings auch kein Gipfelbuch.

 

 

 

Je nachdem auf welchem Gipfel die Bücher liegen, füllen sie sich mehr oder weniger schnell. „In der Nähe einer Seilbahn sind sie flott vollgeschrieben. Am Tegelberg hält das Gipfelbuch vielleicht ein Jahr„, erzählt Peter Ziegler. Einmal im Jahr geht er die umliegenden Gipfel ab, um zu schauen, wie viele Seiten in den Büchern noch frei sind. Auch bei diesen Touren hat er immer sein Werkzeug und ein paar Bretter im Rucksack dabei, um Wege beim Aufstieg instand zu halten.

Volle oder feucht gewordene Gipfelbücher tauscht er aus und bringt sie ins DAV-Archiv in die Kletterhalle der Sektion in Rieden. Dort gibt es schon eine stolze Sammlung. Das älteste ist das Gipfelbuch vom Pilgerschrofen von 1903. Es lag 30 Jahre dort. „Ein Buch der jungen Wilden, denn am Pilgerschrofen muss man schon richtig klettern können.“ Mit Bleistift in schöner Sütterlinschrift geschrieben, haben sich hier die ersten Bergsteiger verewigt, die den Berg erklommen haben.

 

 

Das Gipfelbuch für den ebenfalls anspruchsvollen Säuling wurde ein Jahr später dort oben ausgelegt. Nur wenige Einträge von Einheimischen finden sich darin. „Die fragten sich damals sicherlich, was man dort oben auf den Bergen eigentlich machen soll“, schmunzelt Peter Ziegler. „Das waren für viele Einheimische alles weiße, unerkundete Flecken. Wandern und Bergsteigen basieren auf der Gründung der Alpenvereine in Norddeutschland, in Schlesien oder im Ruhrgebiet. Die Bergbegeisterten von dort reisten in die Alpen, kamen auch ins Allgäu und legten alpine Wege an.

Im Gebiet um Füssen und die benachbarten Königsschlösser fanden sie bereits ein gutes Wegenetz vor, denn hier führten damals schon Reitwege durch die Bergwelt. Sie wurden im Auftrag der Wittelsbacher zur Jagd angelegt.

 

 

 

Die Gipfelbücher sind für Peter Ziegler Zeitzeugen, an denen sich gesellschaftliche und politische Veränderungen gut ablesen lassen. Ein Gedächtnis der Berge. Zu den ersten Alpinisten zählten auch einige Engländer. So „reservierte“ ein Anton Riefs aus London einen Platz auf dem Säuling, um den Blick auf das Zugspitzmassiv vielleicht einmal wieder bewundern zu können. Nach den Alpinisten folgten die „Sommerfrischler“, die die neu angelegten Wege ebenfalls nutzen konnten. Bald darauf wurde das Publikum internationaler. So finden sich in den alten Gipfelbüchern Einträge von Bergbegeisterten aus Schottland, Italien, Frankreich und später auch von Japanern.

 

 

Peter Ziegler macht es Spaß, in den Gipfelbüchern zu blättern. Ein Sammelsurium an verschiedensten Informationen, Emotionen und Eindrücken. Von Tagebucheinträgen bis zu poetischen Erstlingswerken ist dort alles zu finden. Die schönsten Einträge schreibt er sich heraus und sammelt sie. Ihn berührt es, wenn die Menschen etwas ganz Persönliches von ihrem Leben auf dem Gipfel teilen. So bestätigt sich beim Lesen für ihn immer wieder der Spruch von Bergsteiger Peter Habeler:

Ich gehe auf einen Gipfel, und wenn ich wieder herunterkomme, bin ich ein anderer Mensch.“

 

 

 

Der Ausblick von den Dächern der Füssener Berge weckt beim manchen auch die kreative Ader. So trugen einige schon ihre Aquarellfarben auf den Berg, um das Panorama zu malen, andere skizzieren oder schreiben spontan ein Gedicht auf. „Die Blütezeit von schönen Einträgen ist in den 1950/60er Jahren. Da genossen die Menschen nach dem Krieg ihre neu gewonnene Freiheit und nahmen sich Zeit am Gipfel, um anderen etwas Schönes zu hinterlassen“, erzählt Peter Ziegler. Es entstand eine richtige Gipfelbuchkultur. Einige Einträge sind wohl auch von den Komikern Heinz Erhardt und Otto inspiriert. So zieht sich eine Linie von Ottifanten und Werner-Comics durch die Gipfelbücher.

 

 

Ursprünglich hatten Gipfelbücher eine ganz andere Funktion. Meist waren es nur betuchte Leute, die sich das Gipfelerlebnis leisten konnten. Sie trugen statt – wie später – einem Gipfelbier oder einem Gipfelschnaps eine Flasche Wein nach oben, tranken sie leer und steckten ihre Visitenkarte für den nachfolgenden Gipfelstürmer in die Flasche. Dieser zerschlug die Flasche, nahm die Visitenkarte und wiederholte das Ritual mit seiner eigenen Flaschenpost, was im Laufe der Zeit zu regelrechten Scherbenhaufen auf den Gipfeln führte. Deshalb gab es bald Metallrohre am Gipfelkreuz, um Nachrichten zu hinterlassen.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts übernahmen Gipfelbücher in einer Kassette den Nachweis, dass jemand auf dem Berg gewesen ist. Sie ersetzten damit die „Flaschenpost“, die die ersten Alpinisten auf den Bergen hinterließen. Nicht selten kontaktierten sich zu dieser Zeit wohl die Gipfelstürmer per Brief untereinander, verabredeten sich und eroberten später gemeinsam andere Berge. Gipfelbücher waren also so etwas wie ein Gästebuch. Doch mit den darin übermittelten Informationen wie Datum, Namen und geplanter Tour dienten sie – ähnlich wie das Hüttenbuch – Bergrettern auch als Bezugspunkt, wo und wann jemand unterwegs gewesen war.

 

 

 

Der Füssener DAV-Wegewart besiegelt seine Gipfelerfolge selbst nicht mehr oft mit einem Eintrag. Das hat aber hauptsächlich damit zu tun, dass er ständig in den Bergen unterwegs ist und auch mal vor oder nach der Arbeit eine Tour unternimmt. Auf dem Weg zur Ahornspitze, wegen des großartigen Panoramas einer seiner Lieblingsgipfel, hat er vor kurzem drei prächtige Steinböcke gesichtet. Immer wieder präsentiert sich ihm die Berglandschaft in einem anderen Licht.

Gerne sieht er sich auf dem Gipfel die neuen Einträge ein, sofern das Gipfelbuch nicht gestohlen wurde, was mittlerweile immer häufiger vorkommt. Auch einzelne Seiten werden herausgerissen. Peter Ziegler bedauert auch, dass viele Bergwanderer nur noch Einträge im WhatsApp-Stil wie „Ich war hier“ hinterlassen. Von digitalen Gipfelbüchern hält er ebenfalls nicht viel. „Für uns, die wir die Wege und Kreuze pflegen und in Stand halten, ist es fast wie ein Dank, wenn wir oben im Gipfelbuch eine nette Geschichte lesen können. Das macht das Leben doch gleich schöner.

 

 

Wer kein Spontandichter ist, dem empfiehlt Peter Ziegler, sich schon zu Hause einen netten Spruch zu überlegen und auf die Wanderung mitzunehmen. Das steigert außerdem die Vorfreude auf die Tour und den Gipfel. Und ganz wichtig: Nach dem Eintrag das Buch bitte wieder mit dem Plastikbeutel in die Metallkassette am Gipfelkreuz stecken und diese wieder richtig verschließen. So sind die Gipfelschätze sicher vor Regen und Schnee und erfreuen zusammen mit der Aussicht auch die nächsten Gipfelstürmerinnen und Gipfelstürmer.

 

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